Der alte Baum
Auf einem großen Feld, das so weit das Auge reichte, flach war, wohnte genau in der Mitte ein alter Baum, dessen kräftige Wurzeln weit in die Erde reichten. Er freute sich über den warmen Tag. Über die Sonne, die ihn mit ihren Strahlen wärmte und liebevoll über seine Blätter streichelte. Über den Wind, der ihm etwas Kühlung verschaffte und seine grünen Blätter an den Zweigen tanzen ließ. Über ein paar Häschen, die in seinem Schatten saßen und sich Witze erzählten und über die Vögel, die in seinen verzweigten Ästen eine Wohnung bauten, wobei die Jüngeren dabei waren, sich mit ihrem fröhlichen Gesang zu verzaubern. Er mochte es, wenn alle bei ihm waren und ab und zu mit ihm redeten.
„Hallo, alter Baum, du siehst ja richtig glücklich aus!“ sagte der Wind zum Baum. „Oh, ja!“ sagte der Baum, es schien als würde er sich weiter ausbreiten, weil er sich so behaglich fühlte. „Was macht dich denn so fröhlich, alter Baum?“ Der Wind, der schon die ganze Welt gesehen hatte, war wie immer neugierig. „Ich hatte gestern Besuch, lieber Wind.“ sagte der Baum mit Stolz in seiner Stimme. Der Wind meinte: „Aber Baum, du hast doch immer Besuch! Jeden Tag und jede Nacht ist jemand bei dir! Tiere, die Sonne oder der Mond, der dir immer so gruselige Geschichten erzählt; und nicht zu vergessen: ich.“ Der Baum lachte: „Ja, lieber Wind, das ist schon richtig, aber gestern war es etwas Besonderes.“ Der Wind, der wie ein altes Waschweib war, kam dicht an den Baum und ließ die Blätter sich heftig bewegen. „Pass doch auf, Wind! Die Vögel brüten und ein paar Küken sind schon geschlüpft.“ Der Wind entschuldigte sich: „Du weißt, wie neugierig ich bin, alter Baum. Erzähle mir die Geschichte …bitteeeee!“
Der Baum war stolz darauf, eine Geschichte zu haben, die der Wind noch nicht kannte. „Dann komme mal vorsichtig an meine Rinde. Weit oben an meinem Stamm wirst du ein Herz entdecken, das mir vor vielen Jahren ein Liebespaar in die Rinde geschnitzt hat.“ Der Wind schaute nach und fand das Herz mit ein paar Buchstaben darin, doch er verstand nichts. „Ich habe es gesehen, aber jetzt sage mir, warum du darauf so stolz bist. Das hat doch bestimmt weh getan!“ Der Baum schüttelte sich ganz sanft. „Ja, es tat schon weh, doch das ist lange her. Aber was ich gestern erleben durfte, entschädigt mir den Schmerz von damals.“ Der Wind wurde immer wirbeliger: „Erzähl doch endlich, alter Baum!“ Selbst die Häschen waren gespannt und setzten sich mümmelnd in den Schatten des Baumes.
Einige Vögel flogen durch die Umgebung und sagten jedem Bescheid, dass der alte Baum etwas erlebt hatte. Von überall kamen sie, um die Geschichte zu hören, der Wind wurde richtig nervös, denn es dauerte, bis alle Tiere sich unter dem alten Baum versammelt hatten. Da saß der Fuchs mit seiner Familie neben der Hasenfamilie, das Wiesel neben der Krähe und die Maus neben dem Bussard, der nur aus Zufall hier war, weil er gejagt hatte, um seine Kinder zu ernähren. „Jetzt sind alle da, alter Baum, du kannst anfangen zu erzählen.“ Der alte Baum freute sich, als er die ganzen Tiere zu seinen Wurzeln sah, die gespannt ihre Ohren spitzten.
„Es war vor vielen, vielen Jahren, ich war noch ein junger Baum mit weicher Rinde, und die Luft war noch um einiges besser als heute. Die Sonne schien warm vom Himmel, so dass viele Tiere bei mir waren, um sich in meinem Schatten auszuruhen. Es waren eure Vorfahren, die schon bei mir Schutz suchten und es genossen, bei mir zu sein. Es war eine andere Zeit, nicht so wie heute, wo alles hektisch abläuft.“ Die Tiere nickten einstimmig, die Straße war nicht weit entfernt, die Autos, die immer schneller geworden waren, hatten schon viele von ihnen zu Hinterbliebenen gemacht. Der Baum hatte ihnen auch dann Schutz und Trost gespendet.
Der Wind drängte den Baum, die Geschichte weiter zu erzählen. „Damals kamen zwei Menschen zu mir, sie setzten sich in meinen Schatten und erzählten, was sie vom Leben erwarteten. Stundenlang waren sie bei mir, ich hörte ihnen geduldig zu. Sie sprachen von Kindern, die sie noch nicht hatten, erzählten sich ihre Träume von einem Leben im Glück, einem Leben in Liebe. Sie saßen bei mir, und als die Sonne rot am Firmament stand, küssten sie sich, es war ein langer, inniger Kuss voller Zärtlichkeit und Zuwendung.“ Die Tiere seufzten, einige ruckelten sich auf dem harten Boden zu recht, bis sie gemütlich Platz gefunden hatten. Die Hasenfamilie rückte dicht zusammen, genau so wie die Fuchsfamilie.
„Sie zogen sich in meinem länger werdenden Schatten aus, ihre nackten Körper, die die Abendsonne erstrahlen ließ, schimmerten wie rotes Herbstlaub. Sie küssten sich immer intensiver, berührten sich einander so, als ob sie Angst hätten, den anderen zu verletzen. Ganz vorsichtig glitten ihre Hände über den anderen, ihre Körper schienen zu verschmelzen. Sie redeten nicht mehr sondern ließen ihr Tun für sich sprechen, was sich für mich komisch anhörte, denn so etwas hatte ich noch nie gehört.“ Die Tiere schauten sich an, doch der Wind wusste Bescheid, er hat schon viele Körper berührt, die ineinander verschlungen waren. „Sie blieben bis spät in die Nacht, der Mond fragte mich schon, ob ich neue Bewohner hätte. Die ganze Nacht über liebten sie sich bis in den frühen Morgen, als die ersten Vögel wach wurden und anfingen, den Tag zu begrüßen mit ihren schönen Liedern.“ Einige Vögel im Baum fingen an, ihr Morgenlied zu singen. „Genau das Lied meine ich, danke, ihr Vögel.“
Der Wind wurde wieder nervös. „Ja und dann? Was passierte dann, alter Baum?“ wollte er wissen. „Dann knieten sie sich hin und küssten sich innig. Sie schworen ihre ewige Liebe, ich sollte ihr Liebesbaum sein, der ihr Herz, ihre Liebe für immer und ewig für sie tragen würde. Ich sollte der Beweis dafür sein, dass sie einst hier waren, ein Beweis ihrer unbeschreiblichen Liebe.“ „Ja, aber was macht dich jetzt so fröhlich, alter Baum?“ Der Wind drehte sich um ihn und ließ dessen Blätter, das Fell und die Federn der Tiere sich bewegen.
„Was mich so glücklich macht? Sie waren gestern hier, mit vielen Kindern, großen und kleinen. Sie tranken Kaffee und aßen Kuchen unter mir, die Kinder kletterten auf mir herum, berührten mich mit ihren kleinen, zarten Fingern. Sie lachten und die ganze Familie fasste sich an den Händen und nahm mich in ihre Mitte. Ein altes Paar stand dicht bei mir, umringt von den anderen. Sie sagten, dass ich ihr Baum wäre, ihr Liebesbaum. Ohne mich wären sie kein Paar geworden, ohne mich wären gestern nicht diese ganzen Menschen um mich versammelt gewesen. Sie hätten meine Kraft in sich gespürt, als sie unter mir lagen und sich liebten. Unter mir wurde ihr erstes Kind gezeugt, das es nicht gegeben hätte ohne mich, und deshalb waren sie gestern hier, um sich bei mir zu bedanken. Sie wollten mir ihre Kinder und Enkelkinder zeigen, sie wollten unter mir ihre Liebe erneuern vor ihnen, sie wollten mir zeigen und sagen, dass sie sich noch genau so liebten wie damals. Noch heute würden sie meine Kraft in sich spüren, und als die Sonne wie damals am Horizont unterging, küssten sie mich.“
Der Wind war ganz ruhig, die Tiere saßen still, denn sie wussten, dass auch sie unter dem Baum gezeugt worden waren. Der Wind wusste, dass er, wenn er etwas zu erzählen oder Sorgen hatte, immer den Baum fragen konnte. Die Vögel wussten, dass der Baum ihnen ein Zuhause gab, ihnen Nahrung schenkte, Schatten in der Hitze und seine ganze Liebe. Die Tiere wussten, der Baum stand immer da, sie konnten ihn besuchen, wann immer sie wollten, sie konnten sich an ihm reiben, er würde sie niemals verlassen oder sich einen anderen Ort suchen. Im Herbst gab er ihnen seine Früchte, die sie über den Winter brachten, so dass sie die graue Jahreszeit überstehen konnten. Die Tiere wussten, dass er sein Leben lang hier bei ihnen sein würde, nie hatte er Sehnsucht, seinen Platz zu verlassen, um die Welt zu sehen wie der Wind oder die Vögel, die dann wieder kamen, um mit ihren Geschichten vor ihm anzugeben. Sie wussten, dass er es war, der wusste, was wichtig war auf der Welt: stehen zu bleiben, Geborgenheit zu geben, zuzuhören auch wenn es Quatsch war, was der andere von sich gab, Schmerz auszuhalten, der vergänglich war und doch bedeutsam. Die Tiere kamen enger an ihren Baum, der immer für sie da war, er war der Mittelpunkt ihres Lebens, ihr alter Baum auf dem großen flachen Feld.